Eine Warnemünder Weihnachtsgeschichte


24. Dezember 2015

Aus dem Büro des Weihnachtsmanns dringt ein Höllenlärm. Während die Geschenkewichtel vorn in der Werkstatt die letzten Päckchen für die diesjährige Bescherung verschnüren und bereits damit begonnen haben, den großen Schlitten zu beladen, sitzt der Weißbärtige mit sieben Zwergen um den großen Arbeitstisch und spielt mit wachsender Begeisterung „Zwerg ärgere Dich nicht“. Er hatte nicht schlecht geschaut, als es letzten Sonntag – er saß mit seinen Helfern gerade beim Nachmittagskakao – heftig an seiner Tür trommelte und die Zipfelmützen Einlass begehrten. Sie hatten sich zwar vorher angekündigt, um ihm ihr neues Brettspiel beizubringen. Allerdings war das eigentlich bereits für den Sommer gedacht. Hm, was sollte der Weihnachtsmann machen? Sie etwa wieder in den tief verschneiten Winterwald zurückschicken? Nein, so etwas tut man nicht! Also lud er sie ein, ins Haus zu kommen und verschwand mit ihnen im Arbeitszimmer.

Von Stund an war der Weihnachtsmann kaum zu sprechen. Nachdem er verstand, wie das neue Spiel funktionierte, spielte er mit den sieben Zwergen eine Runde nach der anderen, so einen Heidenspaß machte es. Allerdings war es verdammt schwer, gegen sie zu gewinnen. Zu groß war ihr Vorsprung an Spielerfahrung. Und so wurde er mit jedem Mal, das er verlor, immer griesgrämiger. Und noch einmal und noch einmal versuchte er sein Glück – die sieben Zwerge waren einfach nicht zu besiegen. Noch dazu begann er bei der ganzen Spielerei zu vergessen, dass in wenigen Tagen das Weihnachtsfest beginnt und er noch eine Menge zu erledigen hatte. Gott sei Dank konnte er sich auf seine Wichtel verlassen! Der oberste Geschenkewichtel eilte wie ein geölter Blitz zwischen den Werkbänken, Packbänken und dem Schlitten hin und her, um sicherzustellen, dass auch ja möglichst alle Einträge auf den Wunschzetteln der Kinder erledigt wurden.

Als das letzte Geschenk seinen Platz auf dem mittlerweile übervollen Schlitten verstaut und die Werkstatt wieder blitzeblank gewienert ist, gehen alle Blicke hoch an die Wanduhr. Höchste Zeit, den Weihnachtsmann auf den Weg zu schicken, schließlich wollen ja alle Kinder rechtzeitig ihre Geschenke in Empfang nehmen.

Klopf, Klopf – keine Reaktion. Noch mal – Klopf, Klopf – Wieder nichts. Als er die Tür öffnet, bietet sich dem Wichtel ein grandioses Bild: Die sieben Zwerge tupfen sich gegenseitig mit großen Stofftaschentüchern Tränen der Enttäuschung aus den Augen, während der Weihnachtsmann ausgelassen und mit glänzenden Augen überglücklich um den Tisch tanzt und dabei mit tiefer Stimme singt „Zwerg ärgere Dich nicht – es ist doch nur ein Spiel – das auch der Weihnachtsmann – mal gewinnen will“.

Der Wichtel zupft ihn an den Hosenträgern und weist auf die Uhr, doch der Weihnachtsmann will noch mal spielen. Jetzt, wo er solch eine Glückssträhne hat, soll er aufhören? Nein, einmal noch. Die Figuren stehen wieder auf dem Brett und weiter geht’s.

Die Wichtel werden nervös. So kennen sie den Weihnachtsmann überhaupt nicht. Er nimmt doch seine Arbeit sonst immer so ernst. Wieder und wieder ermahnen sie ihn, mit dem Spiel aufzuhören. Doch als alles nichts fruchtet, stürmen sie gemeinsam das Zimmer, schnappen den Weihnachtsmann am Gürtel und zerren ihn mitten aus dem Spiel hinaus an die kalte Winterluft. Als der Hitzkopf langsam abkühlt und aufhört, herum zu zetern, fällt sein Blick auf den Geschenkeschlitten im abendlichen Dämmerlicht. Seine Augen verengen sich. Langsam dreht er sich zu großen Uhr um und erstarrt: Verflixt – ist denn schon Heiligabend? Bei der ganzen Spielerei hatte er doch tatsächlich alles um sich herum vergessen! Und wären seine Wichtel nicht so hartnäckig gewesen, würde er noch jetzt am Spieltisch sitzen und den wichtigsten Abend im Jahr verpassen.

Eilig schlüpft er in die warmen Stiefel, wirft er sich den roten Mantel über, den seine Wichtel schon bereithielten, springt auf seinen Schlitten. Es bleibt kaum mehr Zeit zur Verabschiedung, als die Rentiere mit ihrer Last auch schon den Himmel hinauf stürmen. Allmählich kommt er zur Ruhe und richtet sich ein gemütliches Plätzchen vorn auf dem Kutschbock her. Zwei seiner Wichtel liegen hinten unter der kuscheligen Decke und schlafen schon mal vor, denn so bald kommen sie nicht mehr zum Ausruhen. Noch geistert dem Weihnachtsmann das lustige Spiel im Kopf herum und der Spaß, den er hatte, wann immer er den sieben Zwergen ein Schnippchen schlagen konnte.

Da – die erste Station: Ein niedliches Holzhäuschen mit grauem Anstrich und lustigen roten Tür- und Fensterrahmen. Noch nicht wieder ganz bei der Sache, greift er einige Geschenke vom Stapel und schlüpft durch den Schornstein in das Haus hinein. Gerade als er aus dem Wohnzimmerkamin krabbelt, kommt plötzlich ein Hund wild bellend auf ihn zugestürmt. Erschrocken blickt sich der Weihnachtsmann um. Sein Blick streift das Fenster und erkennt die beiden Wichtel wild mit den Armen fuchtelnd auf dem Schlitten herumspringen. Dann bleibt er am Bildkalender haften, der gleich gegenüber dem Kamin an der Wand hängt: groß und deutlich strahlt ihn eine „24“ an. He ???? Das ist komisch. Irgendwas stimmt hier nicht. Während der Hund ihn weiter anbellt und die Wichtel draußen vorm Haus herumfuchteln, versucht er sich zu konzentrieren. Dann fällt der Groschen: Durch Kamine rutscht er doch eigentlich immer in der Nacht zum 25. Dezember, nicht aber am 24., dem Heiligen Abend. Und heute war Heiligabend! Ihm wurde siedend heiß. Hatte er doch tatsächlich in seiner großen Eile die falsche Richtung genommen, ist einen Tag zu früh in der amerikanischen Stadt Atlanta gelandet und hätte beinahe die falschen Geschenke abgeliefert! So etwas ist ihm noch nie passiert! Damit hätte er das ganze Weihnachtsfest durcheinander bringen können. Puh, jetzt aber fix. „Winston, was machst Du denn für einen Lärm? Man könnte ja fast glauben, der Weihnachtsmann ist schon da. Da musst Du wohl noch bis morgen warten! Komm her in die Küche, ich hab ein kleines Leckerli für Dich“. Bei diesen Worten erscheint Tanjas blonde Mähne im Türrahmen. Sie erfasst die Situation im Wohnzimmer mit einem Blick und traut ihren Augen kaum. Eben noch hat sie im Rezeptbuch ihrer Oma Gudrun geblättert, um das Plätzchenrezept zu finden. Dabei hingen ihre Gedanken etwas wehmütig bei ihrem Bruder Jonas, ihren Eltern und Großeltern, die bereits heute – am 24. Dezember – drüben in Deutschland ihre Geschenke vom Weihnachtsmann erhalten würden. Und dann das – da steht der Weihnachtsmann höchst selbst bei ihr hier im Haus. Das würde ihr Chris, ihr Göttergatte, niemals glauben – sie muss den Fotoapparat holen! Doch noch ehe sie auch nur einen Ton sagen oder den Fuß bewegen konnte, schnappt sich Santa Claus, wie der Weihnachtsmann in Amerika genannt wird, die Pakete und schlüpft wieder durch den Kamin nach draußen. Er hat kurz das Gefühl, sein Mantel wäre etwas schwerer geworden, doch in seiner großen Eile achtete er nicht weiter darauf.

Draußen hatten die Wichtel schon alles für die sofortige Abreise zu den Kindern in dem Land zwischen Ostsee und den Bergen der Alpen vorbereitet. Mit einem Satz springt der Weihnachtsmann auf den Kutschbock und ab geht die Post.

Herrjeh, Herrjeh, Herrjehminee ! Was ist das dieses Jahr für ein verrücktes Weihnachten. Wird er langsam zu alt für diese Arbeit? Er mag gar nicht an die traurigen Kinderaugen denken, wenn sie eines Tages wegen seiner Tüdeligkeit gar keine Geschenke bekommen. Nein, das darf nicht passieren, auf gar keinen Fall! Falls die sieben Zwerge im nächsten Jahr wieder zu Weihnachten zu ihm zum Spielen kommen wollen, wird er sie wohl vertrösten müssen. Die Beschenkung der Kinder geht vor. Gar keine Frage!

Inzwischen hat er den Wunschzettelstapel mit den Adressen herausgekramt. Ab jetzt darf nichts mehr schief gehen. Doch plötzlich stutzt er. Zappelt da nicht etwas in seinem Mantel? Er schaut in die rechte Manteltasche – nichts. Er schaut in die linke Manteltasche ... „Na hallo – wen haben wir denn hier?“ Aus den Tiefen der Tasche lugt eine Hundeschnauze heraus. Ist das nicht der Winston aus Atlanta? Da erinnert er sich wieder, wie sich sein Mantel beim Sprung durch den Kamin plötzlich schwerer anfühlte.

„Was machst Du denn hier, Du Schlingel! Bist Du einfach als blinder Passagier an Bord gekommen? Ich kann jetzt aber nicht noch einmal umkehren und Dich nach Hause bringen. Da musst Du schon warten, bis ich heut Nacht wieder zu Eurem kleinen Häuschen komme“. Er beugt sich nach hinten zu seiner uralten Truhe, die ihm schon so manches Mal gute Dienste geleistet hat. Er kramt ein wenig und zieht dann eine Weihnachtswichtelmütze und eine warme Decke heraus. „Gut eingekuschelt und mit der Mütze auf dem Kopf sollte Winston den Flug durch die kalte Nacht ohne Probleme überstehen, so dass ich ihn wieder wohlbehalten bei Tanja und Chris abliefern kann“ murmelt der Weihnachtsmann nachdenklich in seinen dichten, weißen Bart.

Dass er spät dran war, ist den Kindern bereits aufgefallen. Ganz ungeduldig löcherten sie ihre Eltern, doch die wussten auch nicht, warum der Weihnachtsmann diesmal nicht zur rechten Zeit erschien. Die ersten hatten bereits große Furcht, in diesem Jahr überhaupt keine Weihnachtsgeschenke zu bekommen. Vielleicht ist dem Weihnachtsmann ja etwas passiert oder ihm sind die Geschenke vom Schlitten gefallen und nun traut er sich nicht zu kommen? Und plötzlich klopft es heftig an die Tür...

Als die ganz Kleinen mit ihren neuen Lieblingspuppen ins Bett gehen, macht sich der Alte auf den Weg zu den größeren Kindern. Hier hat er, wie in all den Jahren zuvor, seinen ganz besonderen Spaß mit den Neunmalklugen, die – meist gerade eben in die Schule gekommen – jedes Jahr behaupten, es gäbe gar keinen Weihnachtsmann. Die Diskussionen vor dem festlich geschmückten Weihnachtsbaum sind jedes Mal köstlich: „Hm, und die Geschenke?“ „Na die kaufen doch Mutti und Papa.“ „Aber die müssen doch arbeiten gehen, wie sollen sie dafür Zeit finden? Und ich hab hier in meiner Tasche deinen Wunschzettel.“ Meist kommt dann „Ja aber du bist ja nicht der echte Weihnachtsmann“. Na ja, was soll er darauf sagen. Den echten Weihnachtsmann erkennt man doch daran, dass er immer Zaubernüsse in seinen Manteltaschen hat. Also lässt er sie einmal hineingreifen und ihre Zaubernuss herausholen. Damit ist natürlich alles klar.

Er hat viel zu tun, diesen Abend. Doch irgendwann sind alle Familien mit ihren Gaben reich beglückt und der Weihnachtsmann macht sich wieder auf den Weg zurück nach Amerika. Winston hat sich auf dieser Reise als Weihnachtsmannschlittenwachhund außerordentlich tapfer geschlagen. Seine Aufgabe war es, vom Kutschbock aus aufzupassen, dass kein Fremder den wertvollen Geschenken auf dem Schlitten zu nahe kam, so lange der Weihnachtsmann drin in den Häusern zu tun hatte. Lediglich Oskar, den italienischen Kater aus Warnemünde, hat er mit aufsteigen lassen. Ich glaube sogar, sie sind richtig gute Freunde geworden.

Zurück im grauen Häuschen mit den lustigen roten Fenster- und Türrahmen schlüpft der Weihnachtsmann wieder durch den Schornstein in den Wohnzimmerkamin. Diesmal zur rechten Zeit. Winston springt sofort aus seiner Manteltasche und nimmt seinen Lieblingsplatz wieder in Beschlag.

Nachdem die drei Geschenkesocken über dem Kamin prall gefüllt sind, zwinkert der Weihnachtsmann Winston noch einmal zu und verschwindet – schwupps – wieder durch den Kamin in die Nacht hinaus.

von Jürgen Dührkop


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